Freitag, 24. August 2012

Meine Gedanken zu Lance Armstrongs Aufgabe im gegen ihn geführten Doping-Rechtsstreit

Dieses Thema hat nichts mit dem Laufsport zu tun. Trotzdem will ich hier dazu was schreiben, denn diese Nachricht rief in mir folgendes Gedankenspiel hervor und damit verbunden einige Einfälle, die ich schreibenswert finde.

Denken wir uns kurz in das Jahr 2003 zurück: Ein strahlender Jan Ullrich auf dem Siegerpodest. Gerade hat er im Bianchi-Trikot eine sensationelle Tour de France absolviert, Experten sagen er sei besser als bei seinem ersten Sieg 1997 gewesen, und er wurde mit großem Abstand Sieger. Es war sein vierter Sieg beim härtesten Radrennen der Welt. Auf der Spitze seiner Leistungsfähigkeit und als gefeierter Held einer ganzen Nation beendet er seine Karriere und zieht sich vom öffentlichen Leben, das sowieso immer eher Belastung für ihn war, zurück.

Die Realität sah damals natürlich ein bisschen anders aus. Lance Armstrong hat diesen deutschen Radsporttraum verhindert.

Armstrongs Entschluss, sich nicht in einem gegen ihn geführten öffentlichen Dopingprozess zu äußern, wird wahrscheinlich dazu führen, dass ihm seine sieben Tour de France-Siege aberkannt werden. Ob jetzt nachträglich meinem ehemaligen Idol Jan Ullrich die Toursiege von 2000, 2001 und 2003 zugerechnet werden, ist eine andere Frage, die im Prinzip auch unbedeutend ist, da die Frage nach seiner Dopingvergangenheit unter ähnlich schlechten Vorzeichen steht wie die Armstrongs und wahrscheinlich dem größten Teil des Pelotons in den vergangenen Jahrzehnten. Was mich viel mehr ins Grübeln bringt, ist die Tatsache, dass Armstrong jahrelang als glänzendes Vorbild dargestellt wurde, wenn es um Ehrgeiz, absoluten Siegeswillen, Disziplin, Cleverness, Abgebrühtheit und Trainingsfleiß ging. Jahr für Jahr trafen im Sommer dieses idealisierte Bild eines Wettkämpfers auf der einen Seite und das schlampige Talent, Jan Ullrich, auf der anderen Seite aufeinander. Alles konzentrierte sich auf dieses Duell.
Die Flachetappen zu Beginn der Tour - Vorgeplänkel. Vor allem in den öffentlich-rechtlichen Sendern ging es, wenn das Thema Radsport behandelt wurde, immer nur um die Frage: Kann Ullrich dieses Mal endlich sein Potential abrufen und Armstrong schlagen, oder war er wieder einmal zu nachlässig im Training?

Jedes Mal habe ich schwitzend und bibbernd vor dem Fernseher gesessen, als es zur ersten Bergankunft hochging.
Ich habe es gehasst, wie ARD und ZDF dieses Duell darstellten. Der faule Fettsack Ullrich auf der einen Seite - der Superman aus den USA, der Sieger über den Krebs auf der anderen Seite. Wurde Ullrich Zweiter, war er in der öffentlichen Meinung ein Versager. Aufgrund der abartig hohen Erwartungshaltung, die damals herrschte. Die kam natürlich dadurch zustande, dass Ullrich zunächst mal ein begnadeter Athlet war. Befeuert und ins Bizarre getrieben wurde sie allerdings durch die Berichterstattung, die Ullrich im Jahresverlauf immer ungefähr so darstellten: Er futterte sich Winterspeck an, kam dann im Frühjahr nicht aus den Puschen und hatte dann zu wenig Vorbereitungszeit für die Tour und musste sich jedesmal innerhalb von ungefähr vier Wochen 10kg Übergewicht von den Rippen strampeln, Vorbereitungsrennen fahren um dann in der zweiten Tourwoche einigermaßen in Form zu sein. Aufgrund seines einmaligen Talents konnte er seinen mangelnden Ehrgeiz, angeblich sei er auch mit zweiten Plätzen zufrieden, eine Schande für einen solchen Sportler, ausgleichen und trotzdem ein außergewöhnlicher Radfahrer werden. Hier sah man wie die öffentliche Darstellung und die damit verbundene Erwartungshaltung das eigene Talent zu einer echten Bürde werden ließen.

Armstrong hingegen war so ziemlich das genaue Gegenteil in der öffentlichen Wahrnehmung. Seine Karriere eher als Klassikerjäger gestartet, Armstrong das Kraftpaket und ideal geeignet für hügelige Kurse, durch seine Krebserkrankung sowohl mental als auch physisch vollkommen verändert, entwickelte er sich zum Rundfahrer mit dem dafür nötigen kompletten Repertoire. Der unbändige Siegeswillen, das fast schon unsympathische Streben nach Erfolg nahm man in den deutschen Medien stets als Nebenprodukt seines Kampfs gegen den Krebs wahr, schließlich gelang es Armstrong nur aufgrund dieser Einstellung, dem Tod von der Schippe zu springen. Und nur mit diesem Mindset war er auch in der Lage den eigentlich viel talentierteren Ullrich Jahr für Jahr zu demütigen. Und so glichen sich auch Jahr für Jahr die Bilder im Winter. Speckiger Ulle hier, ein irrer Lance Armstrong dort, der schon im Januar den Galibier hoch- und runter radelt, hinter ihm im Auto Johann Bruyneel, der Armstrong bittet, es für heute gut sein zu lassen. Doch Armstrong will noch einmal hochradeln, auch wenn der Nebel kaum mehr als zehn Meter Sicht zulässt.
Armstrong war derjenige, der über den eigenen Körper gesiegt hatte. Der Asket, stärker noch als der Tod. Immer und immer wieder musste man sich solche oder ähnliche Berichte anschauen. Kurz: Die Schwarz-Weiß-Malerei wurde hier in Perfektion betrieben. Held und Anti-Held. Der Kämpfer gegen den verwöhnten Bengel, der sich nachts Nutellagläser in der Mikrowelle aufwärmt um sie dann in einem runter zu stürzen...
Als Ullrichfan hatte man wenig Argumente, denn der war ja einfach nur faul - Diskussionen brachten nie etwas, die Köpfe der Menschen waren zugekleistert mit diesem simplen Denken.

ARD und ZDF entwickelten so über die Jahre eine Art Hassliebe gegenüber Ullrich. Es wurde immer gehofft, dass er es doch einmal schaffen würde. Wurde er Zweiter, konnte aber auch öffentlichkeitswirksam draufgehauen werden. Es wurden ehemalige Radsportler zurate gezogen, die Ullrichs Saisonplanung und Trainingsfleiß kritisierten. Persönlichen Einblick hatten dabei die Allerwenigsten.

So ging das also Jahr um Jahr. Jahr um Jahr kam die erste Bergankunft und es war immer ein bisschen so wie der Gang zur Schlachtbank, die Öffentlichkeit hoffte immer, dass die faule Sau Ullrich vielleicht doch einmal ausbüchsen könnte. Ich erinnere mich noch genau an meine Gefühle vor jeder wichtigen Etappe: Endlich solle er es mal allen zeigen, diesen heuchlerischen Reportern, die ihn immer wieder mit Wonne als Versager stempelten. Ich fuhr den Berg immer mit hoch wenn Ullrich dabei war. Weil ich so nervös war, zappelte ich mit meinen Beinen. Ich ertrug die Ungerechtigkeit einfach nicht. Ich konnte es nicht fassen, dass ein so erfolgreicher Sportler in der öffentlichen Wahrnehmung dastand, als sei er ein dummer kleiner Junge, der zufällig in einen von Gott gesegneten Körper geschlüpft ist und fast nichts dafür tat, um erfolgreich zu sein.

Und diese Wahrnehmung hatte nur einen Grund und einen Namen: Lance Armstrong. Ohne ihn wäre Jan Ullrich der vierfache Tour de France-Sieger. Der Allergrößte, der harte Arbeiter, der sein Talent ausschöpft, der unwiderstehlich am Berg war, unschlagbar im Zeitfahren. Er wäre der gefeierte Held. Er wäre derjenige, den man gefilmt hätte, wie er die Gipfel der Tour im Winter hochfährt, wie er stundenlang im Keller auf der Maschine sitzt und trainiert. Wie er seine Gabe perfekt umsetzte indem er innerhalb kürzester Zeit in Topform kam. Er wäre auf einer Stufe mit Beckenbauer, Schumacher und Graf genannt worden. Die öffentliche Wahrnehmung wäre eine gänzlich andere gewesen. Aber es war nicht so. Weil er Zweiter und nicht Erster wurde. Das ist die Perversion dabei. Ein Platz in der Rangliste der besten Radfahrer auf der Welt entscheidet darüber, ob du das Gespött der Nation bist oder ihre idealisierte, hochstilisierte Ikone. Und genau diese Geisteshaltung ist zu einem großen Teil dafür verantwortlich, dass so viele Sportler illegale Substanzen nutzen, um sich einen Leistungsvorteil zu verschaffen. Armstrong hat es offensichtlich getan. Wenn man sich anschaut, wie in den vergangenen Jahren über zweite Plätze berichtet wurde und wie die Menschen über Sportler urteilen, über sie spotten, die nicht Erster werden, dann kann ich es sehr gut nachvollziehen, warum im Leistungssport so breitflächig gedopt wird. Ich kenne die genauen Motive von Armstrong und Ullrich nicht. Ich weiß nicht, warum sie gedopt haben. Vielleicht war es bei Armstrong der Wille, sich selbst etwas beweisen zu wollen nach der Krankheit. Vielleicht wollte er mit seinem Erfolg möglichst viele Gelder für seine Stiftung einfahren. Vielleicht wollte Ullrich Armstrong bloß einmal schlagen. Vielleicht wollte er nur ein einziges Mal noch die Tour gewinnen. Vielleicht wollte er es endlich allen beweisen, dass er doch ein Siegertyp ist. Vielleicht war er auch einfach nur geldgeil. Vielleicht war es auch einfach gang und gäbe, zu dopen und es herrschte diesbezüglich kein Unrechtsbewusstsein. Egal, welcher Umstand zum Doping geführt hat, eins ist für mich offensichtlich: Eine derartig gestörte, abartige und teilweise menschenverachtende Berichterstattung gegenüber einem Zweitplatzierten beim härtesten Radrennen der Welt hat den Erfolgsdruck und damit die Verheißung des Konsums illegaler Substanzen mit Sicherheit befeuert.

Was bleibt ist, dass die öffentlich-rechtlichen Sender in dieser Hinsicht eine geradezu schizophrene Haltung eingenommen haben und, wie man an der Berichterstattung zu den Olympischen Spielen gesehen hat, immer noch einnehmen: Doping wird verteufelt, gegen die Entdeckten werden mediale Hetzjagden betrieben und der Ethos und die Moral des Sports werden immer wieder besungen. Zweite oder wahlweise vierte Plätze hingegen werden nicht oder gering geschätzt, es wird von Desastern und Katastrophen, Enttäuschungen und Versagern gesprochen. Der allergrößte Teil der öffentlich-rechtlichen Sender ist sich nicht bewusst, dass sie mit ihrem Erwartungsdruck und ihrem generellen Verständnis, wie Sportberichterstattung abzulaufen hat, zu dem Klima beitragen, in dem der Dopingsumpf, den sie gerne einfach ausgerottet wüssten, erst richtig gedeihen kann. Denn wo nur der absolute Erfolg zählt, lohnt es sich immer auch, nach illegalen Wegen dorthin zu suchen.

Wäre eine Version, wie ich sie zu Beginn geschildert hatte, gerecht oder wünschenswert? Nein, eher nicht. Ullrich hat mit großer Wahrscheinlichkeit ähnlich gehandelt wie Armstrong. Also war es wieder ein Kampf auf Augenhöhe. Der spätpubertäre Junge, der ich damals war, hätte sich wahrscheinlich zu Tode gefreut, wenn es so gekommen wäre. Es hätte allein mein persönliches Leid gemindert. Ich habe mit Ullrich mitgelitten. Aber niemals, weil er "nur" Zweiter wurde. Sondern, weil die Menschen ihm nicht den Respekt zukommen ließen, den er eigentlich verdient hatte. Als Sieger hätte er den Respekt und die Anerkennung bekommen. Allerdings, wie ich denke, aus falschen Motiven. Aus Motiven und einer Geisteshaltung heraus, die die Sportler erst dazu verleiten, zu betrügen. Leistung sollte unabhängig von Sekunden oder Platzierungen gewürdigt werden.


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